Yin & Yang – Den eigenen Qi-Gong-Weg finden 氣功 (3)

Den eigenen persönlichen QiGong-Weg finden

 

TEIL 3

QiGong ist kein gradliniger Weg zu sich selbst, zu den eigenen latenten Potentialen, zu den eigenen Selbstheilungs-Kräften. Der Weg in unsere eigene Mitte, in der das Selbstbewusstsein und die Selbstbewusstheit verankert sind, führt stufenweise hin zur Selbstwahrnehmung, Selbstentfaltung und bringt uns immer mehr in die Lage, Selbstverantwortung zu übernehmen.

Mit fortschreitender Übungspraxis erlernen wir, uns selbst anzunehmen und uns zu begegnen und erhalten gleichzeitig ein Instrumentarium an die Hand, mit dem wir die Konfrontation mit uns selbst überhaupt erst aushalten und erfolgreich bestehen können.

Wir können in die Ruhe kommen und Stille wird nicht (mehr) als bedrohlicher Zustand wahrgenommen. Die in uns wohnende Energie, oft genug schon jahrelang verschüttet, kommt wieder in Fluss. Dies erzeugt Freude, die an keine Wunscherfüllung und an keine äußere Zuwendung gebunden ist.

Jede/r, der/die sich intensiv mit QiGong beschäftigt, kann zumindest nachvollziehen, dass durch das Hineingehen in die Stille eine andere Selbstwahrnehmung, und andere Bewusstseins-Zustände erfahren werden. Durch diese Erfahrung kann dann ein anderes Lebensgefühl und eine veränderte Sichtweise auf „Dinge an sich“ erreicht werden. Insoweit ist QiGong selbstverständlich mehr als eine Atem- und Bewegungstechnik und ganz sicher mehr als eine gesundheitsfördernde Maßnahme. QiGong fördert eine wahrhaftigere Lebenseinstellung im Umgang mit sich selbst, den Menschen um sich und der Umwelt.

Die Entwicklung des Inneren Lächelns z.B. ist eine (Lebens)Kunst. Denn dieses Lächeln kann aus der Tiefe kommen und kann uns mit tief in uns liegenden Kraftzentren verbinden. In diesem schlichten, meditativen, wachen, klaren, absichtslosen ´außergewöhnlichen´ Zustand entwickelt sich das Gefühl für den Augenblick, für das Hier und Jetzt, in dem wir leben. Der Moment, in dem Zukunft und Vergangenheit real sind.

Wach und präsent sein im Hier und Jetzt

Die Wirkungen des QiGong sind so vielfältig wie die Menschen, die QiGong betreiben, sie hängen sicherlich davon ab, welche innere Einstellung die Übenden zu sich selbst und zu den Übungen haben, aber vor allem, wie offen sie für Veränderungen sind. Es ist deshalb für jeden Übenden wichtig, sich selbst und die eigene Motivation einschließlich der hemmenden Einflüsse (Skepsis und andere Widerstände) immer wieder wahrzunehmen und sich nicht zu verurteilen.

Mit und durch das QiGong können wir lernen, Achtsamkeit in alltägliche Verrichtungen einfließen zu lassen. Alle Übenden können bei wacher Selbstwahrnehmung feststellen, wie sehr sich umfassende und grundsätzliche Veränderungen einstellen, wenn sich aus dem einfach nur „da Stehen“ das Aufrecht-Stehen entwickelt.

Ebenso verändert sich die Atmung mit fortschreitender Praxis. Es liegt an uns, die „Wohlspannung“ und innere Ruhe in andere Alltäglichkeiten auszudehnen. Ja, beim Zähneputzen, in der U-Bahn, beim Warten auf den Bus, in der Schlange vor dem Fahrkartenschalter usw. können wir unser Üben fortsetzen und uns auf dem QiGong-Weg weiterentwickeln.

Musik zum Relaxen…

 

A L I = Atmen, Lächeln, Innehalten

Weitere Hinweise zur Vorstellungskraft und zur Gedankenführung
Bei den QiGong-Übungen hat die geistige, gedankliche Aktivität (also die Vorstellungskraft) eine wichtige Rolle. Unsere Gedanken und Vorstellungen beeinflussen alle physiologischen Aktivitäten unseres Organismus positiv, wenn wir Bilder und Vorstellungen entwickeln, die angenehme, beruhigende Empfindungen auslösen. Das Zusammenspiel von Vorstellungskraft und Qi-Fluss äußert sich z.B. durch das Erspüren von inneren Bewegungen, durch das Gefühl des Durchströmtwerdens und durch einen anderen Atemrhythmus. Wird die Vorstellungskraft zu intensiv eingesetzt, setzt oft eine Verkrampfung ein, die z.B. zu Kopfschmerzen führen kann. Leichtigkeit und Lebendigkeit werden dann nicht erreicht. Andererseits ist bei einer unzureichenden Vorstellungskraft und Gedankenführung (Träumen und Dösen beim Üben) der fördernde Einfluss auf die innere Bewegung des Qi nicht gegeben.

Die geistigen Aktivitäten (Gedanken) und emotionalen Aktivitäten und Erregungszustände (Furcht, Zorn, Schrecken, Trauer, Freude, Grübeln/Sorge) sind Spiegelung und aktive Verarbeitung der äußeren Welt. Wenn die geistige Stimulation durch diese Zustände zu stark ist bzw. zu lange anhält, können ein Ungleichgewicht und Dysfunktionen der Organe auftreten. Mit einer positiven Vorstellungskraft werden Überstimulationen also abgebaut bzw. verhütet.

Hinweise zur Atemführung und zum Atemrhythmus

Vorrangig soll durch die Übungspraxis eine „natürliche Atmung“ erreicht werden. Das bedeutet, dass stabil, langsam, fein, sanft, gleichmäßig und tief (nach unten bzw. innen) durch die Nase ein- und ausgeatmet wird. Es soll nicht aufblähend, einziehend nach Luft geschnappt oder zwanghaft der Atem geführt werden, sondern der Atem sollte in den Körper (passiv) einströmen. „Das Atmen vergessen“.

Mit der Zeit wird sich ein harmonisches Zusammenspiel der langsamen, fließenden Bewegungen mit der natürlichen Atmung und der geistigen Entspannung einstellen. Dabei wird auch die Phase der „Nicht-Atmung“ – also die Pause zwischen den Ein- und Ausatmungsphasen – spürbarer und wirksam. Mit fortschreitender Übungspraxis wird sich der Zeitraum der Nicht-Atmung ohne bewusste Anstrengung ausdehnen und kann dann ausgekostet werden. Denn in dieser Phase werden die meditativen Aspekte des QiGong sehr deutlich erfahrbar. Es heißt, dass in diesen Momenten „das eigene Selbst verschwindet“ und „zum inneren Ursprung zurückgekehrt wird“.

Während der Geist die Aktion führt, sorgt die Atmung für das Abgeben, das Loslassen von altem, verbrauchtem Qi und für das Neuaufnehmen von frischem Qi. Wir wissen, wie sehr unser emotionaler Zustand unsere Atmung beeinflusst. Ausgeglichenheit und innere Ruhe bewirken, dass wir Energie speichern können. Ein gründlicher Luftaustausch bewirkt eine Zunahme des Sauerstoffs und verbessert damit die Aktivität der Zellen. Durch die bewusste Zirkulation des Qi durch die Meridiane und Kanäle werden die Organe und deren Wechselwirkung stimuliert.

Für alle AnfängerInnen, und das sind wir alle immer (nach dem täglichen Aufstehen), ist es möglicherweise interessant zu wissen, dass es verschiedene Atemtechniken gibt, aber für uns reichen die Anweisungen, dass die Atmung stabil, langsam, fein, sanft, gleichmäßig und tief, aber auf jeden Fall natürlich sein soll. Wir atmen nach Möglichkeit durch die Nase ein und aus, und betonen in der Regel die Ausatmung, wobei von Anfängern auch durch den Mund ausgeatmet werden kann. Die Zunge sollte entspannt sanft oberhalb der Vorderzähne den Ansatz des Zahnfleisches (Gaumen) berühren.

Hinweise zur Körperhaltung und zu den Körperbewegungen

„Wenn die Gestalt nicht stimmt, kann Qi nicht sanft fließen.
Fließt Qi nicht sanft, ist der Geist unruhig.“
Ist der Geist unruhig, wird Qi geschwächt“

in: J. Bölts: QiGong – Heilung mit Energie

 


Qigong Shibashi – alles fließt…

Die Körperhaltungen und die Bewegungen sind entspannt, natürlich und angenehm. Oft mag die QiGong-Grundstellung „Stehen wie eine Kiefer“ den AnfängerInnen unbequem und anstrengend vorkommen.Das weist darauf hin, dass die Haltungsmuster noch nicht dem Qi-Fluss angepasst sind. Es braucht seine Zeit, um diese alte-eingeübte Haltung zu verändern, um sich dann diese Qi-Übung („Stehen wie eine Kiefer“) anzueignen und die Wirksamkeit dieser Übung spüren zu lernen.

Wichtig beim Stehen und Sitzen ist besonders das von Innen her „Aufgerichtet-Sein“. Dies kann unterstützt werden von der Vorstellung, am obersten Punkt des Kopfes (BaiHui) emporgezogen zu werden und gleichzeitig nach unten zu sinken und wie auf einem großen Gummiball zu sitzen. Dadurch kann das Schwere nach unten absinken und wir erreichen die obere Leichtigkeit (oben leicht – unten fest und gut gegründet).

Die Bewegungen im QiGong sind (fast immer) langsam und fließend. Die Hände z.B. werden ´wie durch Wasser gezogen´. Eine andere unterstützende Vorstellung ist, dass man bei Bewegungen Gummifäden langzieht. Je mehr der Übungsablauf verinnerlicht ist, je mehr können wir unsere Bewegungen aus der Mitte heraus entstehen lassen.

Eine entspannte, aufrechte Haltung (ob im Sitzen oder Stehen) fördert die Durchlässigkeit. Alle Gelenke sollen möglichst durchlässig werden, damit das Qi diese Pässe leicht durchströmen kann. Qi und Blut können dann fließen und den ganzen Körper versorgen. Die Bewegungen sind gelöst und geschmeidig, Fülle und Leere, Yang und Yin, wechseln sich ab. Die wache Aufmerksamkeit unterstützt die Entspannung. Durch die Verbindung von innerer Ruhe und entspannter, geistiger Wachheit entwickelt sich eine „Wohlspannung“, der QiGong-Zustand.

Gesagt ist nicht gehört
gehört ist nicht verstanden
einverstanden ist nicht ausprobiert
ausprobiert ist nicht geübt
geübt ist nicht gekonnt
gekonnt ist nicht beibehalten

Literatur

Jiao Guorui: QiGong YangSheng – Ein Lehrgedicht, Medizinisch Literarische Verlagsgesellschaft Uelzen

Johann Bölts QiGong – Heilung mit Energie, Herder – Verlag – Spektrum

A. Schillings, P. Hinterthür QiGong, Der fliegende Kranich, Windpferd- Verlag

Ulli Olvedi Yi QiGong, Das stille QiGong nach Meister ZhiChangLi, O.W.Barth Verlag

Li Ding Meridian-QiGong, Verlag für fremdsprachliche Literatur Beijing

Christa Proksch Taijiquan, Sammlung Luchterhand

Gerhard Wenzel QiGong – Quelle der Lebenskraft, Edition Tau

Raymond Smullyan Das Tao ist Stille, Fischer Taschenbuch – Spirit

Richard Wilhelm Das Geheimnis der Goldenen Blüte (Übersetzer); Eugen Diederichs Verlag

Dschuang Dsi Das wahre Buch vom südlichen Blütenland, Eugen Diederichs Verlag

Lau-Tse Tao Te King (diverse Übersetzungen erhältlich)

Mircea Eliade Schmiede und Alchemisten, Herder – Verlag – Spektrum

Thomas Cleary (Hrsg.): Die Drei Schätze des Dao, Fischer Taschenbuch – Spirit

Wen-Tzu Also sprach Lao-Tse; Die Fortführung des Tao Te King, O.W.Barth Verlag

Chang Chung-Yuan Tao, Zen und schöpferische Kraft, Eugen Diederichs Verlag

Josef Weber-Bluhm Der Weg zum Herzen und der Weg des Herzens, Ebene VI, die sechs Schichten und LuoYuan-Kombinationen; Bacopa Verlag

 

LaoZi (Kapitel 16):

Erreiche das Äußerste an Leere, bewahre die Stille in der Mitte
Miteinander entstehen die zehntausend Dinge, ich sehe ihre Rückkehr
All die zehntausend Dinge, ein jedes kehrt zurück zu seiner Wurzel
Dies heißt Stille. Stille bedeutet Rückkehr zum Schicksal
Rückkehr zum Schicksal heißt Dauer. Um die Dauer zu wissen heißt weise zu sein
Nicht um die Dauer zu wissen, bedeutet rücksichtslos zu sein und wild
Wenn man rücksichtslos ist und wild, führt das Handeln ins Unglück
Um die Dauer zu wissen, heißt allumfassend zu sein
Allumfassend zu sein, heißt unvoreingenommen zu sein
Unvoreingenommen zu sein, heißt königlich zu sein
Königlich zu sein, ist wie der Himmel zu sein
Wie der Himmel zu sein, heißt eins zu sein mit dem DAO
Eins zu sein mit dem DAO, bedeutet ungefährdet zu bleiben bis an Ende der Tage

Allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern danke ich – ebenso wie meinen Lehrerinnen und Lehrern – für die vielen Hinweise und Anregungen auf meinem Qi-Gong-Weg.

Joachim Wirtz, geb. 1948, hat seit seiner Jugend Kontakt und Erfahrungen mit asiatischen Bewegungskünsten und unterrichtet seit 15 Jahren QiGong an Volkshochschulen in Berlin und Potsdam.

Hier der PDF-Download zum Ausdrucken:
Hinweise für die QiGong-Praxis Frühjahr 2013 Endf PDF

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